23. Dezember 2013 Guatemala, La Antigua – Nuancen

Life doesn´t give you the people you want. It gives you the people you need. To help you, to hurt you, to love you, to leave you. And to make you into the person you were meant to be.

Das Leben gibt Dir nicht die Menschen, die Du gerne hättest. Es gibt Dir die Menschen, die Du brauchst. Um Dir zu helfen, um Dich zu verletzen, um Dich zu lieben, um Dich zu verlassen. Und um die Person zu werden, die Du eigentlich bist.

Es ist diese Sehnsucht, die La Antigua ausstrahlt. Eine unausgesprochene Nuance. Eine Sehnsucht, in sich selber zu Hause zu sein. Ich versuche den Moment zu geniessen, als wir nach 4 Monaten erneut die 35.000 Einwohner zählende Stadt Guatemalas  betreten. Als wir durch die Strassen der Altstadt laufen und wie beim ersten Mal die barocke Kolonialarchitektur bewundern mit seinen majestätischen Vulkanen der Umgebung des zentralen Hochlandes.  Und wieder aufs Neue muss ich feststellen, dass es Verbindungen und Begegnungen gibt, die von einer Aura der Magie, Schicksalhaftigkeit und Unausweichlichkeit umgeben sind.

Auch diesmal bekomme ich wieder die Möglichkeit, in der Klinik von Doctora Maira López zu hospitieren. Die zwei Wochen sind eine Bereicherung für mich. Genau wie damals im August. Die ersten Arbeitstage in der Praxis sind anspruchsvoll und intensiv. Patienten mit Depressionen, Suizidgedanken und Panikattacken spielen eine grosse Rolle, bei deren Therapie ich Doctora Maira nicht als Medizinerin oder Spezialistin erlebe, sondern als Mensch. Mit wenig Strategie aber viel Gefühl. Für Kranke, Versager und für all jene, die zu schwach sind, um stark zu sein.

Und dann stellt sie mir die Frage, ob ich bei einer Sectio Caesarea dabei sein möchte (von lat. „Sectio – Schnitt“ und „caesarea – kaiserlich“).  Für die werdende Mutter ist es ein Wunschkaiserschnitt. Wie könnte ich dieses Angebot ausschlagen. Tatsächlich hat sich die Zahl der Kaiserschnitt-Entbindungen in den letzten 20 Jahren nahezu verdoppelt. Über 30 % der Frauen wählen diese unnatürliche Methode. Böse Zungen behaupten, man könne es gut in den Terminkalender einer Frau einarbeiten. Zudem gäbe es keinen Stress mit den Wehen oder das Wunschsternzeichen für das Kind sei gerade passend. Kaum eine Operation wird so emotional diskutiert wie der Kaiserschnitt. Auf dem Ultraschallbild des prall gefüllten Bauches der Mutter sehen wir das schlagende Herz des Ungeborenen in der Grösse einer Bohne.

Es ist pure Faszination. Ein Wunder der Natur – die Biegsamkeit des embryonalen Skeletts, die Perfektion der Körperteile in Miniaturform. Nach erfolgter Spinalanästhesie werden in 60-minütiger chirurgischer Feinarbeit Schichten von Haut und Muskeln durchtrennt. Feinsäuberlich. Gewissenhaft. Dann wird ebenfalls durch Einschnitt der Uterus eröffnet. Bei der sogenannten „Misgav-Ladach-Methode“ wird möglichst wenig geschnitten, dafür aber das Gewebe auseinander gezogen. Für mich ist dieser Vorgang äusserst brutal anzusehen.

Die Ärzte lachen, machen Witze, unterhalten sich über das vergangene Wochenende während ich gegen die aufkommende Übelkeit ankämpfe. Mein Puls rast. Die Arbeit ist blutig und gnadenlos. Doch irgendwann ertönt der erste Schrei. Dieser fruchtbare, hysterische Schrei, zu denen Babys in der Lage sind. Und ich selbst bin, ja, was bin ich? Erleichtert. Glücklicherweise fragt Maira nicht, ob es mir gefallen hat. Und ich bin froh, dass sie nicht fragt. Denn ich hätte lügen oder ja sagen müssen.  Es sind die unausgesprochenen Nuancen, die mich trotzdem verraten. Die blutleere Farbe meiner Haut, die Fahrigkeit meiner Bewegungen, die Art, wie ich meine Gesichtsmaske beim Verlassen des Operationssaales zusammenlege. Sorgfältig. Korrekt.

Das anschliessende Abendessen verbringe ich schweigend und nachdenklich. Das Geburtserlebnis hat mich mit etwas in Berührung gebracht, das ich vergessen oder verdrängt habe. Und plötzlich verspüre ich die Notwendigkeit, das Leben in einem anderen Zusammenhang zu sehen. Als Teil des grösseren Ganzen. Wie eine lang vergessen geglaubte Erinnerungen an die Kraft der Seele.

„Die eigentlichen Entdeckungsreisen bestehen nicht im Kennenlernen neuer Landstriche, sondern darin, etwas mit anderen Augen zu sehen.“

Guatemala, das Land, das ich eigentlich gar nicht bereisen wollte. La Antigua, die Stadt, die ich auf dem Weg nach Mexiko eigentlich zu umfahren plante. Die sich auf schicksalhafte Weise in unsere Reisepläne einfügte. So wie Julio, Luisa und Maira, unsere neuen Freunde, die sich mit einer Unausweichlichkeit in unseren Herzen verewigten. Mögen sich unsere Wege erneut kreuzen. Irgendwo auf der Welt. Bis dahin - Vayan con dios, amigos!

Luisa und Julio

Öffentlicher Waschplatz in Antigua

Busbahnhof in Antigua

Busbahnhof in Antigua

Strassenverkäufer am Lago de Atitlán

Lago de Atitlán mit seinen Vulkanen - mystisch und energievoll

 

Wetter:

22 Grad, Sonne

 

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