26. April 2013 Bolivien, La Paz – Von Frau zu Frau

Manche Anthropologen gehen davon aus, dass urgeschichtlich Frauen gegenüber Männern die Angeseheneren waren. Für die frühen Gruppen der Jäger und Sammler waren weibliche Mitglieder durch die grössere Stetigkeit der Erträge als Sammlerinnen gegenüber dem wechselnden Erfolg der Jäger ökonomisch möglicherweise wichtiger.

Wir stehen vor dem Schreibtisch der jungen, hübschen Bolivianerin, die uns die begehrten Einreisedokumente für unsere Motorräder nach Bolivien ausstellen soll. Zusammen mit den Reisepässen halten wir ihr die schweizer Fahrzeugpapiere entgegen, diesie nun begutachtet. "Bueno“, sagt sie, „Sämtliche Daten müssen in unser Computersystem eingegeben werden. Dazu müsst Ihr zur Memorisation gehen. Das ist das Gebäude dort hinten.“ Sie zeigt mit ihren langen schlanken Fingern über unsere Köpfe hinweg und wir marschieren mit den Dokumenten in den Händen in die vorgegebene Richtung. Vorbei an schwatzenden Frauen in typischer bolivianischer Tracht mit weiten, farbenfrohen Röcken und runden Hüten auf den Köpfen finden wir schnell das Büro zur Memorisation. Zwei junge Männer sitzen an einfachen Schreibtischen vor einem Computer, in den sie unsere Daten aus den Fahrzeugscheinen in ein Programm einhacken. Anschliessend erhalten wir eine Nummer, die wir nun wieder bei der jungen, hübschen Dame vom Anfang präsentieren. „Nun benötige ich noch Kopien von sämtlichen Dokumenten.“ Mit Nachdruck zeigt sie auf Vorder- und Rückseite der Fahrzeugpapiere. Also erneut ins Büro der Memorisation. Doch nun scheint alles komplett zu sein und die Zollbeamtin vergleicht die Daten von Ingos Papieren mit denen, die nun dank der Memorisation  im Intranet stehen. Alles hat seine Richtigkeit und energiegeladen stempelt sie die Einreisedokumente. Ingo darf Bolivien betreten.

Als ich an der Reihe bin, ihr meine Dokumente zu übergeben, streikt plötzlich der Computer und das damit verbundene Intranet. Kopfschüttelnd starrt unsere junge Hübsche auf den Bildschirm. „Wir können doch Deinen Mann nicht alleine einreisen lassen!“ meint sie zu mir aufsehend. Nun ist es an mir, heftig den Kopf zu schütteln und zur Unterstreichung füge ich hinzu: „Dazu gibt es in Bolivien viel zu viele hübsche junge Frauen!“. Mit grossen Augen starrt sie mich an. Sie scheint sich nicht sicher zu sein, ob meine Aussage ein Bedürfnis darstellt, die Unannehmlichkeiten zu teilen. Doch sie besitzt so viel Anstand, bei den Worten zu erröten. Kinn und Wangen sind so klar geformt, als wären sie aus weissem Marmor gemeisselt. Unsere Blicke treffen sich erneut und sie lächelt mich an. „Nein, das können wir nicht zulassen.“ Sie nickt wissentlich als sie mit schnellen Tastenkombinationen beginnt, den Computer neu zu starten. Nach 10 Minuten halte auch ich die begehrten Papiere in meinen Händen und die attraktive Zollbeamtin verabschiedet uns mit nicht enden wollenden guten Wünschen für unseren Aufenthalt in Bolivien. „Und pass gut auf Deinen Mann auf!“ fügt sie Augenzwinkernd hinzu.

Nach 100 Kilometer Fahrt durch das Hochplateau der bolivianischen Berge erreichen wir den Ort Curahuara de Carangas. Er liegt bei einem Drittel zwischen der Grenze und La Paz und ist als unser heutiges Tagesziel eingeplant. Das einzige Hostal im Ort finden wir wenige Meter vom Ortseingang entfernt. Die Zimmer sind einfach und zweckmässig ausgestattet, doch alles sieht sauber aus. Aber kalt ist es! Wir befinden uns auf 3900 Meter über dem Meeresspiegel, doch geheizt wird offensichtlich erst im Winter.

Patricia, die Besitzerin des Hostals bietet uns an, ebenfalls das Abendessen und das morgige Frühstück im Hostal einzunehmen. Sie offeriert uns Unterkunft und Verpflegung für insgesamt 13 US Dollar, was wir gerne annehmen. Ein äusserst attraktiver Preis nach den teuren Lebenshaltungskosten in Chile und Argentinien!

Pünktlich um 19.30 Uhr finden wir uns im „Comedor“ ein. Mit uns sitzt noch ein weiteres Pärchen am Tisch, die sich als „Touristas nationales“ vorstellen, waschechte Bolivianer sozusagen. Sie müssen sich im Alter von Mitte 60 bewegen. Die Dame ist in dicke Kleider gehüllt, die ihre kräftigen Hüften noch unterstreichen. Über ihre körperliche Fülle hinaus strahlt sie eine solch sinnliche Vitalität aus, die mich zum Staunen bringt. Auf ihre Frage, wie es mir ginge, antworte ich ehrlich: „Mucho frio!“. Ohne zu zögern rutscht sie zu mir herüber und ihre fleischigen Hände nehmen meine inzwischen zu Eiszapfen gefrorenen Finger zwischen die ihren. Sie rubbelt kräftig an meinen gefühllosen Händen und lachend meint sie zu Ingo: „Das wäre eigentlich die Aufgabe des Ehemannes!“ Sie macht gestikulierend klar, dass er mich in den Arm nehmen und kräftig drücken soll, damit ich warm werde. Ihre Hände verströmen eine solche Wärme, dass ich tatsächlich das Gefühl bekomme, mein Blut kehrt langsam in meine Extreme zurück. Als dann auch noch eine Griessuppe mit Gemüsestreifen als Vorspeise serviert wird, ist für mich der Abend gerettet. Für einen kurzen Moment treten meine eigenen Sorgen der Kälte hinter meinen Hunger zurück und ich atme den warmen Geruch der dampfenden Suppe ein.

Ausgeruht und mit Tee, Kaffee und Marmeladenbrötchen gestärkt machen wir uns am nächsten Morgen auf den Weg nach La Paz. Sie ist eine der grössten und wichtigsten Städte der südamerikanischen Republik Bolivien und kann mit einigen Weltrekorden aufwarten: Mit dem Flughafen in El Alto auf fast 4100 Meter besitzt die Stadt den höchsten Zivilflughafen auf unserem Globus. Sie ist zugleich auch der höchstgelegene Regierungssitz der Welt.

La Paz liegt im Canyon des Rio Chokeyapu, der in die umgebende Hochebene des Altiplano eingeschnitten ist und sich zu einem Talkessel mit einem geschützten und angenehmeren Klima weitet. Der Höhenunterschied zwischen den weiter talwärts gelegenen südlichen Stadtteilen mit vielen Villen und dem Stadtrand am oberen Ende des Talkessels beträgt knapp 1000 Meter, was bei der Einfahrt nach La Paz zu einem spektakulären Ausblick führt. Zwischen der Höhenlage der Wohnviertel und dem sozialen Status ihrer Bewohner existiert eine eindeutige Beziehung: je höher die Lage, desto ärmer die Bewohner.

 

Im riesigen Talkessel der Stadt befindet sich sowohl das Zentrum als auch die Altstadt sowie modernste Wolkenkratzer, die schon sehr an europäische Verhältnisse erinnern. Vom Talkessel aus ziehen sich unzählige armselige Bretterhütten die Hänge bis El Alto und auf der anderen Seite bis ins Gebirge hinauf. Daher bietet La Paz aufs Erste nicht gerade ein sehr homogenes Stadtbild wie etwa eine europäische Stadt. Doch gerade das Nebeneinander von Tradition und Moderne, indigener Märkte, kolonialer Altstadt, Boutiquen und Geschäftshäusern schaffen eine besondere, ja fast schon faszinierende Atmosphäre. Unverkennbar über all dem thront der gewaltige Illimani, mit 6462 Metern der höchste Berg des im Osten an das Altiplano angrenzenden Gebirgszuges der Cordillera Real.

Aufgrund der Topographie gibt es im Stadtgebiet nur wenige breite und flache Hauptstrassen, auf die sich der Fahrzeugverkehr konzentriert. Insbesondere im Stadtzentrum, das nicht umfahren werden kann, kommt es häufig zu chaotischen Verkehrsverhältnissen, von denen wir ein Lied singen können. Nachdem uns das Navigationsgerät eine Stunde lang durch die Menschenmengen des zentralen Wochenendmarktes gelotst hat, geben wir die Suche nach unserer Unterkunft auf. Stattdessen bitten wir einen Taxifahrer, uns zur Residencial Sucre zu schleusen, die von Motorradreisenden als sichere Übernachtung für Mann/Frau und Maschine empfohlen wird. Der nette Taxifahrer wählt  für uns den direktesten Weg, der durch kleine, steile Gassen mit Kopfsteinpflaster führt. 20 Minuten später erreichen wir die Residencial Sucre, wo uns der Eigentümer Juan mit einer dicken Holzbohle begrüsst, die uns die Zufahrt zum Innenhof erleichtern soll. Ich bin froh, angekommen zu sein und mit diesen Worten begrüsse ich unseren Herbergsvater: „Me alegre mucho, si llegamos aca, Juan!“

 

Wetter:

14 Grad, sonnig

 

 

Weitere Erlebnisse