16. März 2013 Argentinien, Córdoba – Praktikum

Der Begriff Praktikum bezeichnet eine auf eine bestimmte Dauer ausgelegte Vertiefung erworbener Kenntnisse in praktischer Anwendung bzw. durch praktische Mitarbeit in einer Organisation oder Institution.

Heute ist es soweit, wir dürfen unser Apartment in Córdoba beziehen. Für einen Monat entfliehen wir dem Nomadenleben und freuen uns auf einen festen Wohnsitz. Tatsächlich kommt die vierwöchige Pause in Córdoba gerade recht. Mein Moped benötigt nach 12.000 km einen neuen Hinterreifen, der Service ist für beide Maschinen überfällig, die Schlafsäcke schreien nach einer Wäsche, wir brauchen eine Pause und Ingo, ja Ingo hat Zahnschmerzen. Seit Wochen läuft er mit gequältem Gesichtsausdruck durch die Gegend und selbst meine verordnete Gesichtsakupunktur (direkt senkrecht in den Kaumuskel „Musculus Masseter“) bringt keinen Erfolg.

Somit reisen wir am Freitag Nachmittag in die 1,3 Millionen Einwohner grosse Stadt, die neben Buenos Aires die zweitgrösste Stadt Argentiniens ist. Wir haben Glück. Der Berufsverkehr hat noch nicht eingesetzt und wir kommen nahezu staufrei durch das Zentrum und erreichen problemlos die Adresse unserer Unterkunft. Leider hat unser Vermieter erst um 21 Uhr Zeit für die Schlüsselübergabe und deswegen überlegen wir, wie wir uns die Wartezeit bis zu dessen Ankunft vertreiben. Wir suchen uns eine Bank unter einem schattenspendenden Baum und vernichten unsere übriggebliebenen Vorräte: Oliven, Cracker und Tomaten. Im Haus gegenüber öffnet sich eine Türe und eine Frau mittleren Alters steuert geradewegs auf uns zu. Olga, so stellt sie sich uns vor, trägt ein weisses Kleid, das einen hervorragenden Kontrast zu ihrem schwarzen Haar bildet. Sie setzt sich eine Weile zu uns und stellt verschiede Fragen zu unserem Reiseverlauf. Nachdem ich ihre Toilette benutzen durfte, versorgt sie uns noch mit gekühltem Vanillejoghurt und schenkt uns eine DVD der Biografie von Che Guevara.

Es beginnt langsam zu dämmern und vor uns liegen noch 90 Minuten Wartezeit. Wir beratschlagen, wie wir die Zeit totschlagen können, doch mit den beladenen Motorrädern ist die Lösung nicht ganz einfach. Die Entscheidung wird uns abgenommen, als ein vorbeilaufender Mann vor unserer Bank anhält und uns wild gestikulierend rät, hier während der Dunkelheit nicht sitzen zu bleiben, da die Gegend als unsicher eingestuft wird. Er benutzt das Wort „feo“, was eigentlich für „Hässlichkeit“ oder „Gemeinheit“ steht, aber auch für verdorbene Lebensmittel benutzt wird. Die Warnung nehmen wir erst nicht ernst, tun seine Meinung eher als „etwas sehr pessimistisch“ ab. Erst als uns innerhalb der nächsten 10 Minuten ein Fahrradfahrer und ein Taxifahrer das gleiche raten, ziehen wir schleunigst Jacken und Helm über und fahren zum nächstgelegenen Shoppingcenter.

Ingos Zahnbehandlung beginnt gleich am Montag Morgen und erweist sich umfangreicher als geplant. Nicht nur der Zeiteinsatz ist enorm, auch unser Geldbeutel wird empfindlich überstrapaziert. Er muss zwei abgebrochene Füllungen flicken lassen und eine aufwändige Wurzelbehandlung über sich ergehen lassen. Mit Antibiotikagabe und Schmerzmitteltherapie kommt die Pause in Córdoba gerade zur rechten Zeit.

Der eigentliche Grund für unseren Aufenthalt in Córdoba ist allerdings das Praktikum, das ich in blütenweisser Uniform und ordentlich hochgesteckten Haaren antrete. Ich hatte mich mit einer umfangreich Auflistung meiner beruflichen Laufbahn und einem  Motivationsschreiben bei einer Organisation in Deutschland beworben, die für mich ein Krankenhaus in Córdoba gefunden hat, in dem ich einen Monat mitarbeiten kann. Die Organisationsleiterin Tere Rocca begleitet mich zum Chef der Klinik und dieser wiederum stellt mich dem klinischen Personal vor. Mein Wunsch war ursprünglich, in einer grossen Klinik mitzuarbeiten, die mir die Einsicht in die verschiedenen Stationen ermöglicht. Die heutige Klinik entpuppt sich „nur“ als neurologisches Rehabilitationszentrum, das hauptsächlich Schlaganfall- und Gehirntumorpatienten betreut. Am Anfang ist die Enttäuschung gross auf meiner Seite doch das soll sich schnell ändern. Das Zentrum besitzt 6 Zimmer, die links und rechts vom Flur abgehen. Die Patienten sitzen in Rollstühlen entlang des Flures und warten auf den Therapiebeginn, als ich mit Miguel, dem Chef der Klinik, durch das Gebäude laufe. Im hinteren Teil befindet sich das eigentliche Therapiezentrum. Ein Raum, etwa halb so gross wie eine Turnhalle ist vollgestopft mit Rollstühlen, Laufbändern und Ergometern. Eine Kletterwand befindet sich an der rechten Wand der Halle. Elektrische Geräte für Elektro- und Magnetfeldtherapien, orthopädische Laufhilfen, Medizinbälle liegen willkürlich in sämtlichen Ecken. Es befinden sich etwa 15 Patienten und ebenso viele Therapeuten in diesem Raum. Auf den ersten Blick ist es ein riesiges Chaos. Ich blicke in von Schlaganfällen verzerrte Gesichter, sehe gelähmte und spastische Körper und höre lallende, unverständliche Worte der Patienten. Ich fühle mich völlig überrumpelt.

Doch der erste Schock geht schnell vorbei und ich werde unglaublich freundlich willkommen geheissen. Die Patienten stellen sich mit Namen bei mir vor und erzählen mir in Kurzform ihre Geschichte. Jeder hat sein eigenes, persönliches Schicksal und trotz des schweren Leids, das jedem widerfahren ist, spüre ich eine unglaubliche Lebensfreude und Herzlichkeit in diesen Patienten.

Da ist der 25-jährige Bertil, der einen Autounfall als einziger von 5 Insassen überlebt hat. Bei einer Geschwindigkeit von 170 km/h kam das Fahrzeug von der Fahrbahn ab, überschlug sich und eine Seite prallte gegen einen Felsen. Seitdem ist seine rechte Körperseite nahezu bewegungsunfähig. Eine lange, tiefe Narbe entlang der Schädeldecke erinnert an die Schwere seiner Verletzungen.

Mauro erzählt mir von seinem Motorradunfall. Er holte eines Abends seine Freundin von zu Hause ab und da sie keinen eigenen Helm besass, gab er ihr für die Weiterfahrt seinen. Die beiden verunfallten, seine Freundin blieb dank des Helmes nahezu unverletzt.  Er sitzt heute mit bleibenden Schäden und Lähmungen an der linken Körperseite im Rollstuhl. Sein linkes Auge und der linke Mundwinkel hängen schlaff nach unten. Das Sprachzentrum ist ebenfalls betroffen, er spricht langsam und undeutlich. An die Zeit vor dem Unfall kann er sich nur bedingt erinnern. Beispielsweise kann er mir die Frage nicht beantworten, wie lange er bereits mit seiner Freundin liiert sei. Teile seiner Gedankenwelt sind einfach ausgelöscht. Doch es gibt auch lustige Momente. Er vertraut mir an, dass er seine Freundin nicht küssen möchte, da er aufgrund eines Kieferbruchs eine feste Zahnspange trägt. Ich schaue ihn ungläubig an und erkläre ihm, dass es nur ein Problem sei, wenn auch seine Freundin eine Zahnspange tragen würde. Dann nämlich könnte es zu „Verhakungen“ kommen. Bei seinem herzlichen Lachen wird mir ganz warm ums Herz.

Die Arbeit mit den Patienten besteht für mich darin, gelähmte bzw. motorisch geschwächte Körperteile wieder in die physiologischen Bewegungsabläufe zu integrieren, spastische Muskeln sanft zu mobilisieren, die Gesichtsmimik zu trainieren und Sprachtraining. Die täglichen Erfolgserlebnisse sind klein. Doch sie sind da. Und was mir Tränen in die Augen treibt ist die Zuversicht jedes einzelnen Patienten. „Ich möchte wieder Rugby spielen!“ meint Bertil heute zu mir, als er sich mit zitternden Knien und zusammen gebissenen Zähnen die Laufbrücke entlangschleppt. Er zeigt mir ein Bild auf Facebook aus vergangenen Zeiten. Ein selbstbewusster, attraktiver Mann in Sportkleidung lacht mir auf dem Foto entgegen, muskulös und gut und gerne 20 kg schwerer als heute. Ich bin mir sicher, dass er sein Ziel erreichen wird. Eines Tages. Ich wünsche es ihm von Herzen….

 

Wetter:

Bewölkt, 18 Grad

 

 

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