10. Januar 2013 Chile, Nationalpark Torres del Paine – Die Un-Frage des Jahres

Charakteristisch für Patagonien ist der immerwährende starke Wind, der noch von Sturm- oder Orkanböen überlagert wird. Eine Böe ist eine heftige Luftbewegung (Windstoß) von kurzer Dauer. Sie ist oft verbunden mit einer Winddrehung und tritt häufig in Verbindung mit Regen, Hagel oder Schnee auf.

Nach einem kurzen und schmerzlosen Grenzübergang nördlich von Puerto Natales begehen wir nun wieder chilenischen Boden. Besser gesagt, wir befahren ihn, und zwar auf dem Weg zum Nationalpark Torres del Paine. Oder noch besser gesagt, wir versuchen ihn zu befahren.

Bäng, bäng, b-b-bäng, bäng, bä-bä-bä, bäng, b-b-bäng…. Der Wind macht mich wahnsinnig! Unerbittlich rüttelt er an meinem Helm, klatscht mich böig von der Seite ab. Momentan kommt er von schräg hinten, drückt mir die linke Schulter Richtung Lenker und zieht dann an meiner Halskrause vorbei. Hartnäckig und wütend schneidet er wie eine Peitsche durch die Luft. Vor uns ragen Felsen wie schwarze Fäuste in den stahlgrauen Himmel. Nackte Bergrücken buckeln sich in den Horizont und streben bis zu den Wolken.

Der vor mir aufgewirbelte Staub der Schotterstrecke tanzt einen undefinierbaren Tanz. Meterhoch baut er sich auf um orkanartig an mein Visier zu schlagen. Eine kräftige Böe schiebt und drückt von der Seite und tut ihr bestes, mich von der Schotterpiste abzubringen. Ich konzentriere mich, um das Gleichgewicht zu halten. Nur nicht an den Rand der Piste kommen, dort ist alles noch viel lockerer und steiniger. Ich habe diesen Satz gerade zu Ende gedacht, als eine Folge von mehreren kräftigen Windschlägen auf mich eintrommelt und mein Motorrad wie von Geisterhand gesteuert an den rechten Pistenrand drückt. Der Untergrund ist schwammig und meine Füsse versuchen festen Boden zu finden um die Maschine zum Stehen zu bringen. Geschafft! Ich stemme beide Beine in den tiefen Schotter, als erneut die Böen aufflackern und mich mit kleinen Steinen und Schmutz angreifen. Ich sehe durch das Visier eine graue Staubwand und kneife die Augen zusammen, aus Angst, Steine ins Gesicht zu bekommen. Die Kräfte der Natur rütteln an meinem Motorrad und ich versuche mit aller Energie, mich dagegen zu stemmen. Ich zerre an dem Lenker nach links und versuche gleichzeitig, mit dem rechten Bein maximale Muskelkraft zu entwickeln, um die Balance zu halten. Doch ich schaffe es nicht. Zentimeter für Zentimeter neigt sich die Maschine und die mehr als 100 km/h Windkräfte brechen auch meinen Willen. Die nächste Böe zerrt an mir und Maschine und bringt uns beide wie ein Kartenhaus zu Fall. Das Motorrad landet auf der Seite und im selben Augenblick beginnt das Benzin aus dem Zusatztank zu laufen.

Ich sehe Ingo hinter mir, wie er an der gleichen Stelle kämpft und in den tiefen Schotter gedrückt wird. Er gräbt sich immer tiefer ein, während auch an ihm die Winde unerbittlich reissen und zerren. Das Hinterrad dreht durch und er hat Schwierigkeiten, die Steigung hinauf zu kommen. Irgendwie schafft er es dann doch. Ich renne ihm entgegen, zumindest soweit es die Böen zulassen. Die Piste gleicht nun einer Nebelwand durch den aufgewirbelten Schotter und Staub. Er bringt sein Motorrad schräg gegen den Wind zum Stehen und schreit gegen den Sturm, ich solle die Seite seiner F800 stabilisieren damit sein Motorrad nicht auch noch umfällt. Besser gesagt als getan! Ich hänge mich mit beiden Händen an den Lenker, um die Fuhre in meine Richtung zu gewichten, während die Böen ihr gemeines Spielchen weiter spielen.  Die aufpeitschende Gischt des Lage Pehoe kreischt wortlose Töne durch meinen Helm.

Während Ingo versucht, gegen die Wetterkräfte mein Motorrad aufzuheben, hänge ich wie ein Äffchen mit beiden Armen an seiner Maschine. Ich gehe tief in die Hocke, um sämtliches Körpergewicht zu nutzen. Mein hilfloser Rettungsversuch wird begleitet von Schimpfen, Flehen und Jammern als wie aus dem Nichts ein silbernes Geländefahrzeug in ca. 100 Meter Entfernung auftaucht. Langsam fährt es an Ingo vorbei, der noch immer damit kämpft, mein Motorrad in eine senkrechte Position zu bekommen. Als der Rover direkt auf meiner Höhe ankommt, hält das Fahrzeug plötzlich. Zwei Frauen in Trägertop und Sonnenbrille betrachten mich mitleidig durch ihre getönte Scheibe, als eine von beiden mit fragendem Gesicht ihren Daumen nach oben streckt. Da ich noch immer beide Hände voller Lenker habe und auch sonst jede Menge Wind als Gesellschaft, reagiere ich nur äusserst spärlich. Plötzlich öffnet sich die Fensterscheibe eine Handbreit und eine der beiden Frauen fragt mich in breitem Upperclass-Britisch: „ Are you all right there?“

Bitte versucht Euch jetzt, diese Situation bildlich vor Augen zu führen. Ich scharre im Schotter um das Motorrad wie die Küken um eine Henne. Meine Körperhaltung könnte man am ehesten mit dem Verrichten eines wichtigen morgendlichen Geschäftes vergleichen. Es herrscht eine Atmosphäre wie bei einem Wüstensturm und ich beginne, zwei Dinge ernsthaft abzuwägen:

  1. Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Welt in diesem Moment für mich in Ordnung ist?
  2. Gibt es ein Fünkchen Hoffnung, dass die beiden Britinnen mir oder Ingo in dieser Situation behilflich sein könnten?

Ich bin mir sicher, Ihr hättet genauso entschieden. „We are ok! Thank you!“ brülle ich gegen den Wind und mit einem zufriedenen Kopfnicken fahren die beiden Touristinnen staubend und Steine schleudernd davon. Erfüllt von der rechtschaffenen Genugtuung einer Frau, die Heim und Herd gegen jede Bedrohung verteidigt hat, sehe ich im Spiegel Ingo, wie er mit meinem Motorrad an mir vorbei den Berg hinauf eiert. Im ersten Gang gegen die Böen und Windhosen kämpfend schnaubt er durch den Schotter und bringt im Windschatten eines Felsens die X-Country in eine sichere Parkposition. Im Laufschritt eilt er den Berg wieder herunter. In voller Motorradbekleidung und Helm wirken seine Bewegungen plump und schwerfällig. Doch in diesem Moment sehe ich durch die gischt- und staubverhangene Luft eine Art Superman wie er auf mich zukommt. In blauem, enganliegenden glänzenden Anzug ist er wenige Sekunden später bei mir und sein kräftiger Bizeps schiebt mich zur Seite, um mich aus den Fängen des Windes und des viel zu schweren Motorrades zu befreien. Ich träume davon, wie er mich auf seinen starken Oberarmen den Berg hinaufträgt und rettend unter einen windschattenspendenen Baum legt, als ein ungeduldiges „Nun schieb schon endlich!“ mich unwirsch aus den Träumen erwachen lässt…..

Übrigens: ein paar kräftige Windböen später liegt Ingo mit seinem Moped im Schotter. Wir sind nur einige wenige Kilometer weiter gekommen, als auch ihn die Naturgewalten zu Boden zwingen.

Letztendlich haben wir einen wunderschönen, windgeschützten Zeltplatz erreicht. Das Zelt steht zwar nicht auf dem dafür vorgesehenen Platz, aber wen kümmert es?

 

Wetter:

20 Grad, Sturm und teilweise Sonne

 

 

 

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